oder: Wieviel wird uns ein „enkeltauglicher“ Lebensstil kosten?
Lesezeit: circa 9 Minuten
Die Vorstellung vom ewig wachsenden und sicheren Wohlstand ist zerbrochen. Stattdessen wachsen Sorgen um Klima-Kipp-Punkte, Umweltbelastungen und notwendige, persönliche, gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Veränderungen.
Disclaimer
Dieser Textes könnten Sie verunsichern, konfrontieren, aus gewohnter Verdrängung der Problematik herausführen oder zu Wahrnehmungs- und Verhaltensänderungen motivieren.
Update von Ende Juli 2023
Die Veränderungen in gefährliche Richtungen geschehen schneller, dramatischer als prognostiziert. Hier bezieht sich Rico Grimm auf climatereanalyzer.org
Update vom Juli 2022
Der Handlungsdruck wird immer massiver, je länger wir einfach Vieles weitermachen. Das wissen wir nach dem letzten IPPC-Bericht von Ende Februar 2022.
Lesen Sie den Beitrag bitte trotzdem.
Finden Sie Ihre eigene Position zum Thema.
Fördern Sie Diskussionen und handeln Sie!
Auch wenn jede und jeder „nur“ kleine Schritte geht,
so ist Ihr Beitrag einer zur in die gewünschte Richtung.
Vielen Dank.
tl;dr
Dissonanzen, Zweifel und Sorgen statt Vorstellungen vom andauernden, komfortablen Wirtschafts- und Wohlstands-Wachstum. | Wir – als menschliche Weltbevölkerung – bewegen uns mit unserer Konsum- und Wachstums-Zug wie auf ein Tsunami-Gebiet zu. Wir diskutieren über die Neigung der Schienen, wer die Mehrkosten für die Umwege bezahlen soll und welche Ziele wir jenseits der Gefahr erreichen wollen. Wir steuern nicht oder noch entschieden genug um! | Ob wir aus dem Zug herauskommen werden, ist unklar. – Ob wir es tatsächlich gemeinschaftlich wollen leider auch noch. – Darüber schlage ich vor, miteinander zu reden – und dann immer dringlicher politisch, wirtschaftlich und auch persönlich zu handeln! – Auch kleine Schritte sind ein Beitrag in die gewünschte Richtung.
1. Ausgangspunkt Klimakrise
Über Details kann man immer weiter streiten, weil Prognosen und Klima-Modelle immer von Vorannahmen ausgehen und diese auch anders angenommen werden können.
Und: Die sehr erdrückende Mehrzahl der Forscherinnen und Forscher sind sich einig, dass es eine Erwärmung der Atmosphäre in bisher nicht gekanntem Ausmaß gibt und dieser Prozess weiter drastisch ansteigen wird.
Einige beispielhaft ausgesuchte, anschauliche Zusammenfassungen:
Visualisierung der Erderwärmung seit 1881 bis 2022 (26.07.23)
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Joachim Schellnhuber erklärt in klarer deutscher Sprache: Vom „Kosmos“ zur „Erdsystemanalyse“ (13.11.2019) in einem Youtube-Video; (z. B. Klima-Kipp-Elemente ab 6:40; zurückgehend auf einen Vortrag von ihm in Oxford schon im Jahr 2000)
Prof. Will Steffen in englischer Sprache The Big U-Turn Ahead: Calling Australia to Action on Climate Change von 2018 (14.11.2019)
Der Meteorologe Özden Terli (https://twitter.com/TerliWetter) spricht im heute-journal vom 13.11.2019 von der überdurchschnittlichen Erwärmung der Meere(13.11.2019)
Weitgehende Einigkeit gibt es auch über mögliche, dramatische Folgen, beispielsweise
Großen Eisflächen schmelzen, beispielsweise am Nordpol und über Grönland mit der Folge einer weiteren Verlangsamung des Golfstroms (21.11.2019) und schließlich der Unterbrechung der Wärmezufuhr unseres europäischen Klimas
Deutlich wie nie zuvor hat der Weltklimarat vor dem Klimawandel gewarnt und drastische Maßnahmen gefordert, um den CO2-Ausstoß zu verringern. Denn die 1,5-Grad-Grenze werde schon im nächsten Jahrzehnt überschritten
(Tagesschau: Die Klima-Zeitbombe tickt. IPCC stellt düstere Prognose im März 2023)
Klimazonen werden sich verschieben, Tiere werden sterben/aussterben, Pflanzen sterben oder bringen drastisch weniger Ertrag …
Wetterphänomene werden extremer (23.11.2019) und häufiger, z.B. Waldbrände (aktuell in Kalifornien und Australien)
Extrem laut und unglaublich wahr von Prof. Sebastian Seiffert zum IPPC-Bericht und seiner Angst und der Notwendigkeit, konsequent und radikal zu handeln. Er beschäftigt sich als Wissenschaftler, Aktivist und Politiker mit der Klimakrise. Er ist davon überzeugt, dass wir am Anfang eines systemischen Umbruchs stehen. ~ 6 Minuten Lesezeit (Gastbeitrag vom Mai 2022 in TREIBHAUSPOST)
…
2. Eigene und verbreitete Schwierigkeiten, zu erkennen und zu reagieren
Eigentlich können durchschnittlich interessierte Zeit-Genoss*innen diese Krisen-Vorhersagen wissen. Oder sie können sie sich erschließen: Die Natur und die natürlichen Rohstoffe sind begrenzt. Die Biosphäre der Erde ist ein zerbrechliches Ökosystem.
Tatsächlich habe ich mich selbst immer wieder mit diesem Themenbündel beschäftigt – und es dann wieder gelassen.
Bei manchen wirtschaftlichen Entscheidungen, wie z.B. der fortgesetzten politischen Bevorzugung des Automobils als Fortbewegungsmittel hatte ich Bedenken. Ich wählte meine eigene Alternative und opponierte gegen vorherrschende Bewertungen.
Auch ich bildete mir lange ein, es könne schon irgendwie gut ausgehen.
Ohnmacht zu empfinden ist unangenehm. Also hoffte ich – und schaute lieber nicht so genau hin und delegierte die Verantwortung an politische Entscheidungsträger*innen.
Unterstützt wurde diese – vermutlich nicht nur bei mir stattfindende – Vermeidung des Problembewusstseins auch noch von einem Technik-Glauben, der nur zu gerne annehmen wollte, es gäbe für viele Probleme technische Lösungsansätze.
„Probleme kann man niemals
Albert Einstein
mit derselben Denkweise lösen,
durch die sie entstanden sind.“
Die Verweigerung der dringend notwendigen Problematisierung kann ich mir auch mit dem psychologischen Phänomen des Zuschauereffektes in Gruppen erklären: Eine Gruppe beobachtet etwas Problematisches. Gleichzeitig reagiert niemand aus der Gruppe: Die Verantwortung wird anonymisiert und diffundiert: Weil alle nichts tun, wird angenommen, es sei schon nicht so schlimm.
Hinzu kommt wahrscheinlich eine große Ungeübtheit – vielleicht ist es auch tatsächlich eine kulturelle Überforderung, auf globale Zusammenhänge zu reagieren. Wir Westeuropäer begreifen uns doch sehr individuell. Da fallen kollektive Abstimmungsprozesse schwer: Warum soll ich meinen Lebensstil herausfordern lassen, wenn doch die anderen …
Damit entschuldige ich weder mich selbst noch andere. Ich ahne nur, wie wir soweit kommen konnten.
Auch Greenwashing-Einladungen waren und sind für mich und viele verlockend: Wir tun ja etwas für die Umwelt, kaufen BIO-Produkte, verwenden wenig Plastik, verschwenden möglichst wenig Rohstoffe und recyceln.
Die gerne genommene Illusion ist dann, das würde ausreichen.
Tut es tatsächlich nicht.
3. Daten erheben, sich engagieren statt wegzuschauen!
Im Zusammenhang mit Unterrichtsvorbereitungen zum Oberstufen-Thema Zukunft konnte ich mich der Daten- und Nachrichten-Lage nicht mehr länger verschließen. Ich recherchierte und suchte meinen eigenen Standpunkt.
Viele Gespräche, die ich wagte, zeigten mir das erschreckende Bild, dass in meiner Umgebung viele Menschen die Bedrohung wahrnahmen, aber – wie ich – zu keinen entschiedenen Handlungen fanden.
Konsequent sprach ich das Thema häufiger an und entwickelte eigene, erste Schritte, in dem ich mir meinen eigenen ökologischen Fußabdruck genauer anschaute: Ein erster, grober Überblick passt auf eine Postkarte. Ein CO2-Rechner für Privatpersonen (vom Bundesumweltamt empfohlen) ist wesentlich differenzierter.
Bei Mahatma Gandhi habe ich gelernt, man könne bei sich selbst mit dem Gewünschten beginnen:
Sei Du selbst die Veränderung,
Mahatma Gandhi
die Du Dir wünschst für diese Welt.
Das ist tatsächlich nicht einfach, aber es ist immerhin in unserem Einflussbereich und damit möglich.
4. Postwachstums-Ökonomien: Verzicht und Gewinn
In Diskussionen über meinen vormaligen Hoffnungs-Ansatz, dass wir die notwendigen technischen Lösungen schon finden würden, wurde ich durch einen Freund mit naturwissenschaftlicher Ausbildung auf Prof. Dr. Niko Peach, einen Postwachstumsökonomen, aufmerksam. Herr Peach beeindruckte mich durch sehr kenntnisreiche und gleichzeitig unaufgeregt-humorvolle Darstellung der Menschheitssituation in der ökologischen Krise.
Seine Hauptaussage ist bitter und realistisch: Ein Weiter-So mit der Erwartung eines fortdauernden Status-Quo-Schutzes für unseren Wohlstand ist keine Lösung, sondern verstärkt das ökologische Problem progressiv.
Seine Ideen sind radikal – im guten Sinne von „an der Wurzel ansetzend“. Dabei formuliert er, dass wir seit mindestens 30 Jahren auf ökologischen Kredit leben und umdenken und umsteuern müssen. Wir sind gerade dabei, die Biosphäre der Erde dauerhaft so zu schädigen, dass menschliches Leben darin sehr unangenehm werden wird.
Im Klartext:
Wir sollen verzichten
- auf eine auf Wachstum setzende Wirtschaft
- damit auch auf einen Teil unseres materiellen Wohlstands
- auf die Hälfte der klassischen Erwerbsarbeit in der bisher bekannten Form.
Wir können auch gewinnen
- weniger beruflichen Stress
- mehr Sozialzeit; z. B. für Partner*innen, Kinder, Freunde und die Pflege von lieben Menschen
- mehr Selbstvorsorge-Handlungen; z. B. für Reparaturen von Maschinen und alltägliche Gegenstände und Selbsterzeugung von Nahrungsmitteln
Das sind ungewöhnliche Ideen.
Sie können Lösungswege sein.
Schon länger kenne ich die Ideen einer Gemeinwohl-Ökonomie, wie sie Christian Felber verbreitet.
Hauptanliegen dieser Denkrichtung sind, die Zielrichtung der wirtschaftlichen Aktivitäten nicht auf die Gewinn-Maximierung zu begrenzen, sondern anzunehmen, dass Wirtschaft vor allem der Bedürfnisbefriedigung der Menschen dienen solle und dabei keine Zusammenhänge erzeugen soll, die Menschen, Gemeinschaften oder Umwelten schädigen.
Soweit ich den Ansatz verstanden habe, wird die Steuerung über einen variablen Mehrsteuersatz organisiert: Wer also mehr Schaden anrichtet, bezahlt mehr.
An dieser Stelle scheinen sich die Ideen von Herrn Prof. Dr. N. Peach und Herrn Chr. Felder zu berühren.
5. Diskussionen, auch Probehandlungen und die Rollen-Wahl jeder einzelnen Person erscheinen mir notwendig
Eine Einigkeit, wie auf die ökologische Krise (also weit mehr als nur die Klimakrise) reagiert werden kann, kann ich derzeit nicht sehen. Ich kann nicht erkennen, wie wir dahin kommen können.
Die politischen Akteure fürchten um ihre Wiederwahl. Viele Wählerinnen und Wähler befürworten Klimaschutzmaßnahmen grundsätzlich, reagieren aber kritisch, wenn diese spürbare Kosten für sie verursachen.
Hier sind alle gefordert, zügig – d.h. jetzt(!) – zu handeln
Wähler*innen, die Entscheidungsträger*innen und die politischen Akteure sollen sich in die Meinungsbildung einmischen und andere – als die von Politiker*innen befürchteten – öffentliche Stimmungen bewirken.
Das wünsche ich mir.
Auch bewusste Probehandlungen, also alternative Lebensweisen zur aktuellen, konsumorientierten sind dringend notwendig.
Wie oben angedeutet:
Ab jetzt leben, wie man es sich (von anderen) wünscht.
Einige Beispiele
- Efeu als nachwachsendes Wachmittel
Herkömmliche, häufig in Plastik verpackte Waschmittel ersetzen wir in der Familie seit über einem Jahr durch den natürlichen Rohstoff Efeu. - Natron-Pulver als Deo
funktioniert ganz gut. - werkstattüberholte, aufbereitete Gebrauchtgeräte, z. B. PCs
statt neu produzierten Hightech-Geräten kaufen.
In der Regel funktionieren diese genauso, sind nur eben nicht hipp. - regional produzierte Produkte kaufen
spart Transportwege und damit „Umwelt-Kosten“ - Autofahrten möglichst reduzieren oder gar vermeiden (geht erstaunlich oft)
Echte Herausforderungen, die ich gerne sportlich nehme. – Ich sehe keinen anderen Weg.
Bin gespannt, wie dieses Groß-Experiment weiter geht.
6. Einige Links zur Vertiefung
- Nico Grimm: „Die unbewohnbare Erde“
Ab jetzt gibt es nur noch ein wirklich wichtiges Thema: Die Klimakrise. (1.11.2019; aus dem empfehlenswerten Medium krautreporter.de vom 12. April 2019. Hier für alle lesbar.) - Dominik Heißler: Wir reden in der Klimakrise am eigentlichen Problem vorbei: Wir können nicht ewig wachsen. (1.11.2019; krautreporter 2.09.2019. Hier für alle lesbar.)
- Statistik über die durchschnittlichen bundesdeutschen CO2-Emmissionen pro Einwohner (21.11.2019)
und eine knappe Erklärung des Tagesschau-Faktenfinders Wer wieviel CO2 ausstößt (21.11.2019) - Ein erster Überblick über die eigenen Umwelt-Aktivitäten im Postkarten-Format (20.09.2019)
- Differenzierter CO2-Rechner für Privatpersonen (20.11.2019) von klimaktiv gGmbH, Tübingen
- Herr Knuti, sind wir noch zu retten? (23.11.2019; ETH-Klimaforscher im Interview)
- Prof. Dr. Niko PEACH: Die jung&naiv-Folge 405: Postwachstums-Ökonom Niko Paech über Kapitalismus, Barbarei & Nachhaltigkeit (22.10.2019) vom März 2019
- Prof. Dr. Niko PEACH: All you need is less! Vortrag auf dem Zukunftsfestival in Bühl 2019 (21.11.2019) auf Youtube
- Christian FELBER: Die Wirtschaftswissenschaft ist Hokuspokus. Dissens-Prodcast #46 über sein jüngstes Buch „This not Economy“ (12.11.2019)
- Der Jugendrat der Generationen Stift: Ihr habt keinen Plan. Darum machen wir einen. 10 Bedingungen für die Rettung unserer Zukunft. Blessing, 2019
- Harald Welzer: Positive Utopien – Die Welt ist zum Verändern da. (22.06.2020) dlf 4.07.18; immer noch sehr aktuell.
- Vivian Dittmars Gedanken zu einer modernen Definition von „Wohlstand“ – hörenswert
- Ein sachkundig-dringender Appell, keine weitere Zeit zu zögern von Prof. Dr. Niklas Höhne im Frühjahr 2022 im Rahmen von ÖKOZID im Stuttgarter Schauspielhaus (Prof. Dr. Niklas Höhne ist Klimaforscher, Mitbegründer des New Climate Institute und Professor an der Universität Wageningen, Niederlande, und arbeitet seit 20 Jahren an den IPPC-Berichten mit, kennt also die Hintergründe und die Entwicklung.)
- Extrem laut und unglaublich wahr von Prof. Sebastian Seiffert zum IPPC-Bericht und seiner Angst und der Notwendigkeit, konsequent und radikal zu handeln. Er beschäftigt sich als Wissenschaftler, Aktivist und Politiker mit der Klimakrise. Er ist davon überzeugt, dass wir am Anfang eines systemischen Umbruchs stehen. ~ 6 Minuten Lesezeit (Gastbeitrag vom Mai 2022 in TREIBHAUSPOST)
- Sibylle Anderl im Montagsblock des KURSBUCHs vom 18.07.2022 über die Verdrängung der offensichtlichen Daten und die Trägheit der beteiligten Systeme.
- Treibhauspost #25 „Die To-Do-Liste zur Rettung des Planeten“ Der letzte Teil des -Berichts vom 4.04.2022 ist voller Lösungen, um die Klimakrise aufzuhalten. Wir fassen die fünf wichtigsten Maßnahmen zusammen und analysieren, warum der Report so radikal ist.
- Treibhauspost #31 “Hör auf, die Klimakrise zu verdrängen!” (2.07.2022)
- Treibhauspost #34 Wir werden 1,5 Grad überschreiten – und damit mehrere Klima-Kipppunkte. Es wird Zeit, diese Realität zu akzeptieren.
- Luisa Neubauer: Sagen, was ist. Die Klimakrise im Diskurs. Achzehnte Mediendozentur Tübingen, 22.06.2023
- Eine umfangreiche Hilfestellung für die konstruktive Kommunikation zum Thema „Klima“:
Handbuch Klimakommunikation (mit Zusammenfassungen und Video-Schnippsel; als Buch oder kostenloser pdf-download und als podcast) von klimafakten.de - Stichwort „Zukunftsignoranz“ – oder warum unser Gehirn Mühe mit der Zukunft hat.
Für Tipps zu weiteren hilfreichen Links
und konstruktiven Diskussionsbeiträge in den Kommentaren bin ich dankbar.