Wer nicht aufhören kann,
mit dem ist nichts anzufangen.
Dieser Motto-Gedanke stammt von Wolf Lotter in seinem Text „Der End-Effekt“; aus dem anderen Wirtschaftsmagazin brand eins 5/2006; zitiert nach: https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2006/ende/der-end-effekt (16.11.2024)
Mit diesem Text überdenke ich meinen eigenen Übergang in den Ruhestand. Ich gehe davon aus und wünsche mir, dass meine Überlegungen auch für andere Übergänge hilfreich und anregend sein können.
Der Eintritt in den Ruhestand ist ein markanter Einschnitt. Ich möchte Möglichkeiten offen halten und gestalten.
Über 37,5 Jahre habe ich mich leidenschaftlich in der Bildungsarbeit engagiert:
- planen und koordinieren
- viele Kontakte und Gespräche
- fördern
- mich weiterbilden und auf dem Laufenden halten
- vorbereiten
- Konzepte entwickeln. erproben und evaluieren
- präsentieren und moderieren
- später Unterricht entwickeln und vorbereiten
- Fortbildung
- Unterricht, Konferenzen, Fördergespräche, Elternkontakte
- Notengebung
- individuelle und kollegiale Reflexion
- Mitarbeit an der Schulentwicklung
In meinem bisherigen Berufsleben war ein Kalender unverzichtbar.
Meist war mein Plan voll mit Projekten, Terminen und Verpflichtungen, reservierten Zeiten und To-Do-Listen.
Und aus der beruflichen Arbeit habe ich immer wieder eine tiefe Befriedigung gezogen, weil ich die eigene Arbeit als sinnvoll und notwendig erlebt habe.
Herausfordernde und anstrengende Belastungsspitzen gab es immer wieder, z.B. zu Prüfungszeiten und zum Anfang und zum Ende der Schuljahre.
Dann kam der Abschied in den Ruhestand, eine Zäsur. Ich hatte mich durch eine intensive Reflexion meiner beruflichen Tätigkeit und viele Gespräche gut vorbereitet. Ganz bewusst hatte ich keine neuen Projekte und Aufgaben für die Zeit nach dem Renteneintritt geplant.
Fast vier Jahrzehnte hatte ich engagiert und mit einem ausgeklügelten Plan gearbeitet und auch gelebt.
Als ich in Rente ging, wollte ich ausdrücklich keinen Plan haben. Ich wollte spüren, was kommen würde. Statt der von vielen geforderten Pläne wollte ich mir Zeit und den Luxus einer bewussten Pause und Unterbrechung gönnen:
- Wie fühlt sich der neue Lebensabschnitt an?
- Wo bringt die Ruhe neue Einsichten?
- Wo bleibt der gewohnte Sinn und wo entsteht neuer?
- Was zeigt sich noch?
- …
Loslassen und Vermissen
Was ich schnell bemerkte: Vieles fehlt.
Es sind nicht nur die strukturierten Tage, Routinen und festen Aufgaben, die plötzlich wegfallen. Vielmehr fehlt mir das Selbstverständliche, das mein Leben jahrelang fast unbemerkt geprägt hat: die täglichen Kontakte, die spontanen Gespräche im Lehrerzimmer, die Begegnungen mit Schülerinnen und Schülern, die vielen zwischenmenschlichen Beziehungen, die mir eine tiefe Verankerung und Sicherheit gegeben haben.
Der Sinn, den ich in meinem Beruf gefunden habe, war immer unmittelbar da. Sie war Teil meiner Identität und oft spürbar bei Planungen, Begegnungen und nach vielen Unterrichtsstunden.
Die Wiederentdeckung von Langsamkeit und Muße
In der Unterbrechung, der Pause oder der Stille liegen auch neue Freiräume: Ich gönne mir bewusst ein langsameres Tempo und wieder mehr Zeit für meine Interessen. So kann ich mehr Zeit mit liebgewonnenen Tätigkeiten verbringen: ausschlafen, spazieren gehen, in Ruhe ein gutes Buch lesen oder Musik hören, einen fesselnden Podcast hören, meinen Gedanken nachhängen oder auch längere Gespräche führen.
Diese Muße hat eine eigene Qualität, die ich für mich neu entdecke. Mit weniger Verpflichtungen öffnen sich Räume und Möglichkeiten für Tätigkeiten und Themen, die im früheren Berufsalltag oft zu kurz kamen.
Es macht mir wieder Freude, von Hand mein Tagebuch zu schreiben oder auch einen handgeschriebenen Brief zu verfassen, die Worte und Gedanken bewusst zu gestalten und mit Bedacht zu formulieren.
Momente des Innehaltens sind kostbar. Die Eile, mit der ich den vielfältigen Berufsalltag bewältigt habe, kann einer tieferen Ruhe weichen.
Politische Partizipation und gesellschaftliches Engagement
Und dann ist da noch das Gefühl der Zugehörigkeit und der gesellschaftlichen Mitverantwortung. Das ist geblieben. In der Bildungsarbeit war mein Engagement immer auch politisch. Ich wollte die Gesellschaft positiv gestalten. Ich wollte junge Menschen zur Auseinandersetzung mit ihren Werten herausfordern und mit ihnen gemeinsam Wissen über ein gelingendes Zusammenleben entwickeln.
Mein Beruf steht nicht mehr im Vordergrund. Mein politisches Engagement – im weiteren Sinne – empfinde ich nach wie vor als Impuls: Ich reserviere mir immer wieder bewusst eine begrenzte Zeit, um mich zu informieren, mich zu Wort zu melden und mich einzubringen. In gewisser Weise ist das eine Fortsetzung einer meiner beruflichen Motivationen, nur in anderer Form.
Neues zu entdecken und zu entwickeln kostet Energie.
Ursprünglich hatte ich erwartet, dass mit dem Ende meiner langjährigen Berufstätigkeit sofort Ruhe und Entspannung einkehren würden.
Da war ich wohl einer naiven Illusion aufgesessen. Die selbstgewählte Offenheit auszuhalten, die neue Tagesstruktur und für mich passende Routinen zu entwickeln, forderte meine Aufmerksamkeit und Kraft
Vermutlich sind diese Anstrengungen vergleichbar mit denen, die eine neue berufliche Rolle oder ein neues politisches Amt mit sich bringen. Nicht umsonst hat es sich eingebürgert, neuen Amtsträgern in Politik und Verwaltungsleitungen eine Schonfrist von 100 Tagen einzuräumen.
Zwischen Vergangenheit und vielen neuen Möglichkeiten
Übergänge, Abschiede und Neuanfänge stehen in einem interessanten Spannungsverhältnis.
Auf der einen Seite stehen vermutlich Verlusterfahrungen.
In meinem Fall fallen folgende Punkte weg:
- selbstverständliche, vielfältige Kontakte zu anderen Menschen
- bedeutungsvolle, berufliche Rollen
- Sinnerfahrungen
- ein selbstverständlicher Tagesrhythmus
- täglich unvorhersehbare Herausforderungen
(da ich mit Gruppen und Menschen gearbeitet habe)
Andererseits eröffnete mir die neue Situation auch Freiheiten und viele Möglichkeiten, die ich zu schätzen lernte.
Die Herausforderung besteht wohl darin, Altes zu verabschieden und Neues bewusst und mit offenem Herzen aufzunehmen und weiterzuentwickeln
Dazwischen lebe ich gerade. Persönlich habe ich der spürbaren Einladung widerstanden, die ungewohnt offene Situation am Ende einer langen, planorientierten Lebensphase wieder mit neuen Plänen und Projekten zu gestalten.
Ich fühle den Luxus, mir dafür Zeit zu nehmen. Ich bin gespannt, was mir diese Reise noch bringen wird, welche Menschen, Themen und Räume ich noch – vielleicht auch überraschend – finden werde und wie ich meine Aufgaben immer wieder neu definieren werde.
Andere Menschen ziehen es vor, nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben und dem Eintritt in den „Ruhestand“ konkrete Pläne und Projekte zu haben, z.B. eine längere Reise, eine Teilzeitbeschäftigung, ein neues, bereits organisiertes gesellschaftliches Engagement in einem Ehrenamt etc.
Zur Zeit überlege ich, ob die bisherigen Routinen noch passen und weitergeführt oder beendet werden sollen.
Kleiner Theorieimpuls: Unterlassen ist notwendig für Entwicklung, ein Lob der „EXnovation“
In der Literatur und Theoriebildung gibt es einen Gegenpol zur INnovation: die EXnovation. Dahinter steht die Erfahrung, dass das Aufhäufen von immer mehr Zielen und Aufgaben auf Dauer nicht leistbar sind und auch krank machen.
„Es braucht mehr Bereitschaft zur Exnovation, der Kehrseite von Innovation. Das Festhalten an gewohnten Denkweisen, Handlungsmuster, Strategien verstellen den Raum für wirklich Neues.
Prof. Dr. Klaus Gourgé, Professor FWR, Leitung MBA Zukunftstrends und Nachhaltiges Management;
Solange ich die Luft anhalte, kann ich nicht einatmen.“
zitiert aus der Mitgliederzeitschrift der DGSv, Journal Supervision 1/2024; 14
Für Neues benötigen wir Zeit und Energie.
Diese notwendigen Ressourcen werden in der Regel durch das Unterlassen bisheriger Gewohnheiten und Abläufe frei. („Höre immer wieder mit ausgewähltem Blödsinn auf!“)
Darüber habe ich schon früher geschrieben und in letzter Zeit finde ich immer mehr kluge Texte dazu.
(Links zur Vertiefung siehe unten unter „Weiterführende und vertiefende Hinweise“).
In diesem Jahr beende ich den langjährigen Versand von gedruckten Adventskarten
Fast zwei Jahrzehnte lang habe ich über 100 Adventskarten verschickt, im letzten Jahr etwa 200.
Es hat mir Freude gemacht, sie zu entwerfen, zu planen und herzustellen.
In diesem Jahr habe ich beschlossen, mich von dieser Routine zu verabschieden.
Meine Gedanken zum diesjährigen „Neubeginn“ – und das ist ja das religiöse Thema von „Advent“ – werden deshalb nur hier in diesem Blogtext zum ersten Adventssonntag veröffentlicht.
Alles Gute zum Advent, zu Weihnachten und zum neuen Jahr!
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern:
eine möglichst gelingende Advents- und Weihnachtszeit,
einige Inseln der Ruhe,
gutes Essen
und gelingende Feste,
Muße,
Nachdenklichkeit,
Erholung
und frische und ausreichend Kraft für die Herausforderungen im neuen Kalenderjahr.
Einladung zur Selbstreflexion, zum aktiven Verlernen von Überholtem und zur Diskussion
Diese zum Teil privaten Gedanken habe ich hier aufgeschrieben und geteilt, um andere zur Selbstreflexion anzuregen und einzuladen.
Über Kommentare unter diesem Text oder Rückmeldungen auf anderen Wegen freue ich mich.
Weiterführende und vertiefende Hinweise
- Positive Nachrichten: https://squirrel-news.net/de/
- Das andere und anregende Wirtschaftsmagazin brand eins
- Ein werbefreies Journal: https://krautreporter.de/
- Eine wunderbare Werbung für eine neugierige Lebens-Haltung: https://peterkreuz.com/neugier/
- Ein früherer, kurzer Gedanke zur Weihnacht – ganz einfach
- Meine älteren Texte zu „EXnovation“: mit Weglassen Ziele fördern (Wandel lernen – 6) und entlasten und gesund bleiben (Profession Lehrkraft – 21)
- Neue Lese-Empfehlungen zur EXnovation von Endrik Epe: „Exnovation, oder: Verlernen allein reicht (oft) nicht!“ und „Exnovation in sozialen Organisationen – ein Interview„
Entwickelt im November 2024, zuletzt bearbeitet am 30.11.2024/17.17 h zur druckerfreundlichen Ansicht