Weder Dressur noch Traum sondern kluge Unterstützung für Schulen

Prof. Dr. Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen, lässt in der Süddeutschen Zeitung vom 30. September 2008 unter der reißerischen Überschrift „Schluss mit der Dressurschule!“ ein Interview von sich veröffentlichen.

Mit dem Hochschullehrer Prof. Dr. G. Hüther bin ich – ein Lehrer an einer technischen Berufsschule – in Folgendem einig:

  1. „Es ist kein Naturgesetzt, dass Kinder die Lust am Lernen verlieren!“
    Kinder lernen – wie alle Menschen lernen – grundsätzlich unwahrscheinlich viel, nämlich alles, was um sie herum passiert, besonders das Eindrückliche und emotional Bedeutsame. So kann ein Kind gehen, sprechen und zum Beispiel auch die Gestik oder Sprachmelodie der Eltern lernen.
    Unser Gehirn ist genau dafür geschaffen: Es lernt einfach so. – Also lernt das Kind auch die Einstellungen der Eltern, Erzieher/innen und Lehrer/innen und natürlich – oft genauso bedeutsam – die Einstellungen aus den Freundeskreisen und den Medien.
  2. Für jedes Lernen ist es auf jeden Fall günstig, wenn die Atmosphäre angenehm und von guten Beziehungen getragen ist.
  3. Purer Druck, Drill oder Dressur, schafft voraussehbar keine guten Lernergebnisse.
    Die für effektives Lernen wesentliche Motivation geht verloren. Motivation ist aber wesentlich, weil sie die Bereitschaft ist, sich zu mühen, es auch gegen Widerstände nochmals zu versuchen. Dies ist für erfolgreiches Lernen, vor allem von größerer Zusammenhänge, aber wesentlich.
  4. Ideal für das Lernen ist es, wenn Menschen sich den Lernstoff und die Ziele selbst aussuchen können.
    Beispielsweise erbringen Kinder und Jugendliche enorme Lern-Leistungen in ihrem Hobby und nur die Hälfte dieser Energie in den traditionellen Schul-Fächern eingesetzt, würde enorme Auswirkungen zeigen!
  5. Auf die vielen Erkenntnisse über Lernen und die dafür notwendige Unterstützung haben viele Schulen noch nicht ausreichend geantwortet.
    Zwar gibt es viele Aufbrüche und auch schon erprobte Konzepte, wie viele reformpädagogische Ansätze, zum Beispiel das Montessori-Konzept mit seinem Ankoppeln an der Neugier und der Selbststeuerungsfähigkeit von Kindern und die Idee der Freiarbeit.
    Aber diese Ideen haben sich noch lange nicht durch die vielen vielen Schulen, deren Kollegien und erst recht nicht in die Verwaltungen verbreitet.
  6. Es gibt viel Änderungs- und Entwicklungsbedarf in den Schulen. Die großen öffentlichen Schulen und die diese steuernde Kultus-Verwaltung tun sich schwer mit konsequenten Reformen. Die Konkurrenz der Privatschulen wird diesen Prozess vielleicht beschleunigen.

Bedenken habe ich

  1. bei der Verallgemeinerung: Lernen geht auch in der formalen und für alle Kinder verpflichtenden Schule und es muss nicht von einem Extrem (der Dressur) ins andere (die „Antipädagogik“) gependelt werden. – Oder wollte Herr Prof. Dr. Hüther das so gar nicht behauptet haben?
  2. bei der Verallgemeinerung, dass in einem Unterricht im staatlichen Schulsystem die Kinder überwiegend über- oder unterfordert werden und darum laut und störend werden (müssen).
    Leider muss ich berichten, dass die sehr großen Klassen eine gefährliche Tendenz in diese Richtung wahrscheinlicher machen.
  3. ob mit der eher resignativen Vorhersage der Reform-Unfähigkeit des öffentlichen Schulsystems den Lernchancen der Kinder und Jugendlichen tatsächlich geholfen wird.
    Wir haben ein flächendeckendes, öffentliches Schul-System. Das ist zuerst einmal sinnvoll. Bildung darf nicht an den Geldbeutel der Eltern gekoppelt werden. Eine differenzierte, demokratische und einigermaßen offene Gesellschaft benötigt als Basis eine Grundausbildung aller Bürgerinnen und Bürger.

Ich schlage vor,

  • diese Diskussion auch zu Ende zu führen und die Konsequenzen zu ziehen, die sich aus den Erkenntnissen moderner Hirn- und Lernforschung ergeben.
    Dabei möchte ich auch gerne, dass wir ehrlich und vorsichtig bleiben: Manche Schlussfolgerungen aus den empirischen Daten ist nicht so eindeutig und zwingend, wie dies auf den ersten Blick (auch der Hochschullehrer) scheinen mag.
  • den (staatlichen) Schulen und den engagierten Lehrkräften etwas zuzutrauen und sie vor allem dabei zu unterstützen, ihre Aufgabe zu erfüllen.
  • die Verteilung der Gewichte zu überprüfen und Finanz-Politik und Bildungs-Politik zur Neuverteilung von Geld und Möglichkeiten zugunsten von Bildung zu bewegen.
    Lehrerinnen und Lehrer sind ein sehr großer Personenkreis. Wenn an dieser große Gruppe gespart wird, dann hat dies einen sehr bedeutsamen Effekt (in mindestens doppeltem Sinne)!
    Tatsächlich wird diese Personengruppe seit Jahren mit einer Ausweitung der Arbeitszeit bei nahezu gleichbleibenden Bezügen konfrontiert. (Wer jetzt neidisch an die vielen „Ferien“ denkt, lese einfach den nächsten Punkt über offensichtlich falsche Bilder und deren dauernde Wiederholung.)
  • das Ansehen von Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern in unserer Gesellschaft behutsam anzuheben und den dummen und schon lange falschen Vorurteilen (auch aus prominentem Munde) entgegen zu treten.
  • den für den Lehrberuf ungeeignete Personen Alternativen zu bietet, damit sie aussteigen können.
  • die Kritische Diskussion um das Wort „kostenneutral“ in der Bildungspolitik zu eröffnen, die politisch Verantwortlichen regelmäßig mit ihrer eigenen Programmatik zur Bildung zu konfrontieren und sie (bei den Wahlen) an ihren Taten zu messen.
    Dazu nur ein kleiner, vielleicht aufdeckender Vergleich:
    Niemand käme auf die Idee, den Mitarbeiter/innen in der Produktion in einem Automobilkonzern den Auftrag zu erteilen, ein neues Auto zu entwerfen während sie natürlich weiter die tägliche Produktion gewährleisten. –
    Genau so empfinde ich, wird zur Zeit mit Lehrkräften verfahren: Findet neue pädagogische Wege und Antworten auf neue Herausforderungen! Zeit und Freiraum haben wir dafür leider nicht; dafür haben wir kein Geld!
    Leider habe ich Anlass zu Befürchtungen, dass schon wieder über eine Erhöhung des Arbeitspensums für Lehrkräfte nachgedacht wird. Unter kurzfristigen, finanziellen Gesichtspunkten kann dies sinnvoll erscheinen.
    Meine Bitte ist, auch über langfristigen Folgen nachzudenken. Wer denkt zum Beispiel an die Motivation und die Gesundheit der Lehrkräfte? Wer denkt an die kommenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, an die Bürger/innen der nächsten Generationen?

Ich danke Herrn Prof. Dr. Gerald Hüther für seine provozierenden Aussagen und hoffe, dass diese und auch meine Gedanken – am „Welt-Lehrer-Tag der UN“ erdacht – konstruktive Kritik und eine engagierte Diskussion über Schulen, Lehrkräfte und unterstützende Bedingungen für das Lernen der Kinder und Jugendlichen anregen.

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